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Was wir von Einwanderern verlangen können

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Trotz der Herkulesaufgabe der Integration der Flüchtlinge steht der Staat dem radikalen Islam bisher planlos gegenüber. Es wird Zeit aus den Fehlern zu lernen. Ein Gastbeitrag von Ahmad Mansour und Cem Özdemir in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 28.08.2016.

Alle reden von Integration, doch was meinen wir damit? Sicher, es geht um Spracherwerb und Erwerbstätigkeit. Aber ist das ausreichend, um unsere Einwanderungsgesellschaft zusammenzuhalten? Keineswegs. Der Staat steht dieser Aufgabe bis heute planlos gegenüber. Obwohl sich Wanderungsbewegungen seit langem abzeichnen und sich fortwährend zugespitzt haben, fehlt es an langfristig angelegten Konzepten zur Integration in unsere Wertegemeinschaft.

Es ist Zeit, aus den Fehlern zu lernen, die in Deutschland seit Jahrzehnten im Bereich der Integration begangen werden. Menschen werden auch künftig zu uns kommen. Wenn wir eine offene und freiheitliche Gesellschaft bleiben wollen, dann wird sich die Herausforderung der Integration in unsere Gesellschaft 2020 und 2030 genauso stellen wie heute.

Gemeinsames Ziel aller Demokraten sollte sein, dass aus Ausländern, die bleiben, Inländer werden, die sich als Gleichberechtigte in die eigenen Angelegenheiten einmischen können. Man kann die Wirkung einer solchen symbolischen Übereinkunft auch für die emotional empfundene Zugehörigkeit zu unserem Land nicht überschätzen. Sie kann das Fundament sein, auf dem die umfassende Integration auch der Geflüchteten und ihrer Kinder in unsere Gesellschaft gelingen kann – eben nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als Demokraten. Uns geht es um eine Gesellschaft, deren Mitglieder ihr Handeln an unserer demokratischen Grundordnung orientieren. Sie sollen sich auf dieser Grundlage in ihrer Verschiedenheit anerkennen und Konflikte lösen.

Symbolische Übereinkunft

Wir sprechen von einer Wertegemeinschaft, nicht von einer Gesinnungsgemeinschaft. Doch wenn man dieses Land verachtet oder für moralisch minderwertig hält: Warum sollte man dann hier leben wollen? Das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft, Religion und Kultur verlangt allen Anpassungsleistungen ab. Konflikte und Irritationen sind in einer offenen Gesellschaft eher die Regel als die Ausnahme. Entscheidend ist der zivilisierte Umgang damit. Wir können Verhaltensweisen aushalten, die von üblichen Sitten abweichen. So ist es der falsche Weg, wie in einem Schweizer Kanton, einen verweigerten Handschlag eines Muslims mit Bußgeld zu sanktionieren. Wir sollten aber selbstbewusst erklären, dass ein Handschlag zur Begrüßung für uns selbstverständlich ist, dass sich das Gegenüber bei einer Verweigerung möglicherweise abgewertet fühlt und nicht als Mensch wahrgenommen sieht. Wenn wir erreichen wollen, dass problematische Haltungen und Verhaltensweisen hinterfragt werden, dann müssen wir unseren Standpunkt begründen und dies auch den Kindern in Schule und Alltag pädagogisch vermitteln. Dazu gehört auch, die Grenzen der Religionsfreiheit anzuerkennen, etwa wenn es um den Vorrang des staatlichen Bildungsauftrags und die Teilnahme aller Kinder am Schwimmunterricht geht.

Mit einem Blick in die Verfassung werden natürlich nicht alle moralischen Fragen automatisch beantwortet. Das Grundgesetz steht für uns jedoch über der Bibel, dem Koran oder anderen Heiligen Büchern. Es ist die Grundlage für unser friedliches Zusammenleben und für ein besseres Leben als in den Ländern und Regionen, aus denen Menschen flüchten müssen. Allen Neuankömmlingen sollten wir ein Grundgesetz in ihrer Sprache schenken und den Inhalt lebensnah erklären.

Freiheit ist unser höchstes Gut

Sie können irritiert sein vom liberalen Alltag, den sie hier vorfinden. Warum auch nicht: Häufig haben sie in ihrer früheren Heimat eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, patriarchalische Erziehungsmethoden und eine Tabuisierung von Sexualität erlebt. Wir sollten vermitteln, dass für uns alle dieselben Regeln gelten, dass dies die Freiheit und Sicherheit aller gewährleistet und der Staat mit allen strafrechtlichen Konsequenzen reagiert, wenn Gesetze wie etwa bei den sexuellen Übergriffen an Silvester in Köln missachtet werden. Wir sollten erklären, dass Freiheit unser höchstes Gut ist, wir Freiheit aber auch stets mit Verantwortung verbinden. Rassismus, Antisemitismus und Gewalt gegen Andersdenkende sind damit nicht vereinbar, ganz gleich aus welcher Richtung. Gerade liberal Denkende sollten diese Haltung aus unserer Sicht viel selbstbewusster vertreten.

Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, dass der Orientierungskurs für Zuwanderer über unsere Rechtsordnung ein Schattendasein führt. Dort können die Werte und Normen unseres Zusammenlebens erklärt und vermittelt werden. Dazu gehören die Meinungsfreiheit, die (negative und positive) Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die sexuelle Selbstbestimmung sowie Fragen der gewaltfreien Erziehung. Nicht nur die Stundenzahl sollte deutlich ausgeweitet werden. Auch sollten alle Neuankommenden verpflichtend an diesen Kursen teilnehmen.

Ursachenforschung betreiben

Angesichts der Terroranschläge in Paris, der Terroranschläge in Würzburg und Ansbach sowie des bestialischen Mords an einem Priester in Frankreich ist es nicht verwunderlich, dass viele die Rolle des Islams kritisch hinterfragen. Gerade jenen, die für die Gleichberechtigung der Frauen, die Emanzipation von Lesben und Schwulen oder gegen reaktionäre Tendenzen in den Kirchen gekämpft haben, darf es heute nicht schwerfallen, dieselben Maßstäbe auch dann anzuwenden, wenn es um islamischen Fundamentalismus, Nationalismus und Extremismus unter Migranten geht.

Wir müssen Ursachenforschung betreiben und aufklären. Pauschalisierungen wie „Das hat mit dem Islam nichts zu tun“ oder „Der Islam ist an allem schuld“ bringen uns nicht weiter. Sie polarisieren nur. Ereignisse wie in Köln hängen auch mit einem frauenverachtenden Islamverständnis und einer frauenfeindlichen Sozialisierung zusammen. Wenn Menschen in Familien aufwachsen, in denen Gewalt ein Mittel der Erziehung ist, Geschlechtertrennung herrscht und Sexualität tabuisiert wird, egal ob aus traditionell oder religiös bedingten Gründen, schafft dies die Basis für Ereignisse wie die in Köln. Demgegenüber ist es unverzichtbar, dass der Staat in alle Richtungen wehrhaft ist, ob die Gefahr von Rechtsradikalen kommt oder von Islamisten. Es muss sichergestellt sein, dass Identitäten bekannt sind und niemand ohne Registrierung lebt. Wenn der Antrag auf Asyl abgelehnt wurde, sollte die betroffene Person so schnell wie möglich zurückgeführt werden, sofern dem keine völkerrechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Das gilt auch für Straftäter, die keinen Asylanspruch haben, bei schweren Straftaten oder wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht.

Umfassende Präventionsstrategie ist notwendig

Doch um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, braucht es nicht nur die konsequente Anwendung des Rechts und eine besser ausgestattete Polizei. Islamischer Radikalisierung und demokratiefeindlichem Denken kann der Staat nicht allein durch das Strafrecht begegnen, er muss das Übel an der Wurzel packen. Deshalb bedarf es endlich einer umfassenden Präventionsstrategie. Die Verantwortung dafür sollte sich auf Bundesebene widerspiegeln. Es braucht das Amt eines Bundesbeauftragten zur Prävention und Bekämpfung ideologischer Radikalisierung. In einem Präventionszentrum können Bund, Länder, Kommunen und zivilgesellschaftliche Akteure gemeinsam an der Umsetzung und Weiterentwicklung von Konzepten der Prävention und Deradikalisierung arbeiten.

Zur Prävention gehört auch, dass der Staat im Rahmen seiner Möglichkeiten ein Islamverständnis fördert, das dem Grundgesetz gerecht wird und die Deutungshoheit über den Islam nicht den Fundamentalisten überlasst. Unsere Erwartungen an die islamischen Verbände sind dabei nicht größer oder kleiner als unsere Erwartungen an andere Glaubensgemeinschaften. Von allen religiösen Gemeinschaften, die in Kooperation mit dem Staat sind oder stehen wollen, erwarten wir, dass sie die positive und negative Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie demokratische Willensbildungsprozesse anerkennen und achten. Wir erwarten, dass sie Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie nirgends dulden.

“Einbürgerung” des Islams

Wir wollen, dass die großen muslimischen Verbände Partner und Teil der Lösung werden. Momentan sind sie jedoch eher Teil des Problems, wenn es um die „Einbürgerung“ des Islams geht, auch wenn wir die Arbeit vor Ort in vielen Gemeinden respektieren und wertschätzen. Die Verbände erfüllen derzeit nicht die vom Grundgesetz geforderten Erwartungen an eine Religionsgemeinschaft. Außerdem betreiben sie zum Teil Agitation zu eindeutig bekenntnisfremden politischen Themen und vermitteln in manchen Fällen auch ein Islamverständnis, das der Integration in die demokratische Wertegemeinschaft entgegensteht. Das können wir nicht hinnehmen.

Staatliche Ebenen müssen ihre Partner in der Integrationsarbeit sorgfältiger auswählen. Es gibt viele Projekte, die großartige Integrationsarbeit leisten und gefördert werden sollten. Akteure hingegen, die nicht gegen Radikalisierung und Demokratiefeindlichkeit vorgehen oder diese gar unterstützen, dürfen als Partner nicht in Frage kommen. Die islamischen Verbände und Moscheegemeinden könnten wichtige Partner sein, stehen sich mit ihren Strukturen und Abhängigkeiten jedoch oftmals selbst im Weg. Sie müssen klären, ob sie und die Imame tatsächlich in der Lage sind, an die Lebenswelt der Jugendlichen anzuknüpfen, Radikalisierungstendenzen frühzeitig zu erkennen und dagegen anzugehen.

Demokratisches Islamverständnis

Das Wissen über die islamische Religion und ein demokratisches Islamverständnis können ein wichtiger Baustein für die Prävention gegenüber einem gewaltbereiten Islamismus sein. Deshalb begrüßen wir die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts und Lehrstühle für Islamische Theologie an unseren Universitäten. Dazu braucht der Staat aber auch Kooperationspartner auf muslimischer Seite. Auf dem Weg zur Herausbildung muslimischer Religionsgemeinschaft(en) können Zwischenlösungen in Form von Beiratsmodellen gefunden werden, wie es sie heute etwa in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg gibt. Dort können auch unabhängige Muslime Gehör finden, die nicht von den Verbänden vertreten werden und immerhin die Mehrheit der Muslime in Deutschland darstellen.

Ethik als ein festes Fach ab der ersten Klasse würde dazu beitragen, allen Kindern und Jugendlichen demokratische Grundwerte und soziale Kompetenzen zu vermitteln. Es braucht einen Ort in unseren Schulen, wo die Vielfalt an Weltanschauungen und Glaubensrichtungen zusammenkommt. Daher sollten Ethik und Religionsunterricht bei der Werteerziehung gleichberechtigt behandelt werden. Die Erziehung zur Demokratie geschieht im Idealfall mit den Eltern. Wir müssen aber auch bereit sein und unsere Schulen in die Lage versetzen, „gegen“ die Eltern oder das Milieu zu erziehen, wenn dort Werte und Verhaltensweisen vermittelt werden, die mit unseren demokratischen Grundwerten nicht vereinbar sind. Dafür müssen wir unsere Kommunen als Orte der Demokratie stärken. Gerade in schwierigen Stadtteilen sollten Kitas, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen besonders gut ausgestattet sein. Nur so schaffen wir es, dass Benachteiligte eine faire Chance bekommen und Mittelschichtsfamilien nicht wegziehen, sobald ihre Kinder das schulpflichtige Alter erreichen.

Radikalisierungstendenzen frühzeitig erkennen

Wir müssen verhindern, dass Salafisten die „besseren“ Sozialarbeiter sind. Menschen in Berufsbildern, die wie Lehrer, Sozialarbeiter und Angestellte von Jugendämtern in unmittelbarem Kontakt zu Heranwachsenden stehen, sollten in der Lage sein, souverän und bestimmt handeln zu können. Wir müssen die Ausbildung anpassen, damit sie Radikalisierungstendenzen, Unterdrückung oder Gewalt in der Erziehung frühzeitig erkennen können. Das gilt auch für Ärztinnen und Ärzte, Krankenpfleger und Polizisten, damit sie mit Konflikten interkultureller Art umgehen können.

Heranwachsende mit familiären Einwanderungsgeschichten sollten erleben, dass sie mit ihrer Biographie und ihrer Identität dazugehören. In Schulen, Universitäten, Behörden und Vereinen kann eine Öffentlichkeitskampagne mit dem Tenor „Du gehörst dazu!“ das Entstehen eines „Wir-Gefühls“ in der Gesellschaft unterstützen. In unseren Schulen müssen wir in der Lage sein, darüber zu sprechen, wenn junge Menschen, die familiäre Beziehungen in den Nahen Osten haben, die Ereignisse in dieser Region bewegen.

Wenn wir Kinder und Jugendliche erreichen möchten, müssen wir auch die Bedeutung von Jugendkulturen in ihrem Alltag begreifen. Auch im Internet müssen wir dagegen angehen, wenn in einer Phase der Orientierungslosigkeit islamistische Ideologien als Ausweg erscheinen. Deshalb ist effektive Sozialarbeit heute auch digital. Auch das verdeutlicht, dass wir Pädagogik als Prävention ernst nehmen und verändern müssen. Dann können wir es schaffen.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.08.2016


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